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"Der Umgang mit Büchern wird achtsamer": Interview mit Hanna Nebe-Rector über Malgruppen und Bilderbücher #lesefreude

In der Theorie heißt es, Bilderbücher schärfen das Sehen, sind die ersten Berührungspunkte mit Kunst und Kreativität für Kinder. Doch wie funktioniert es in der Praxis? Und kann man mit dem künstlerischen-kreativen Ansatz Kinder zum Buch bringen? Hanna Nebe-Rector ist Kunsttherapeutin und leitet in Geisenhausen und in Leipzig Malgruppen für Kinder. Teil ihres Konzeptes für ihre Malgruppen ist die Beschäftigung mit Kinderbüchern als Inspirationsquelle. Als ich auf ihrer Facebook-Seite die Bilder der Kinder sah, staunte ich, wie sie die Bilderbücher kreativ-künstlerisch verarbeiteten. Schnell war mir klar, daß ich mehr über diese praktische Form der Leseförderung wissen wollte und freue mich über das Interview mit Hanna Nebe-Rector.

Bilderbücher und Kunst – bei genauer Betrachtung sind beide künstlerische Formen gar nicht so weit auseinander. Seit 2011 verbinden Sie beides in Ihren Malkastl-Gruppen in Geisenhausen und seit letztem Jahr im Atelier ChaMALeon in Leipzig. Wie kamen Sie auf die Idee, Bilderbücher und Kunst zu verbinden?
Bücher sind für mich schon immer eine Quelle der Inspiration. Das Interesse für Kinder- und Bilderbücher hat sich mir bis ins Erwachsensein erhalten, auch nachdem meine Kinder längst dem eigentlichen Bilderbuchalter entwachsen waren. Mit Büchern Begeisterung weiterzugeben, Denkanstösse zu vermitteln und sinnstiftend zu wirken, ist mir im Lauf der Zeit zu einem wirklichen Bedürfnis geworden. Meine erste Zielgruppe waren meine drei Söhne, denen ich viel und gern vorgelesen habe. Jetzt sind die Adressaten meiner Begeisterung für Bücher vor allem die Kinder, welche meine Malgruppen besuchen. Als praktizierende Kunsttherapeutin arbeite ich je nach therapeutischer Zielstellung gern mit Geschichten. Beispielsweise bei der Trauer- oder Traumabewältigung können geeignete Geschichten und Bilder, mitunter auch Musik, immens helfen, können Türöffner ins Gespräch und Inspiration für einen folgenden künstlerischen Prozess, der Verarbeitungsmechanismen und damit das eigentlich Heilsame in der Kunsttherapie anstösst, sein. Im Laufe dieser positiven Erfahrungen lag es nahe, Bücher nicht nur therapeutisch, sondern sozusagen auch prophylaktisch in künstlerischen Projekten mit Kindern und Erwachsenen und in meinen verschiedenen Malgruppen einzusetzen.


Welche Altersgruppe nimmt an den Malgruppen teil? 
Die altersmäßig größte Gruppe nehmen in meinen beiden Ateliers die 6-10-Jährigen ein, aber auch jüngere oder ältere Kinder und Jugendliche kommen in die altersgemischten Malgruppen. Ebenso gibt es spezielle Jugendlichen- und Erwachsenen-Gruppen.

Wie läuft es praktisch ab? Nach welchen Kriterien suchen Sie ein Buch aus? Lesen Sie erst vor oder wie geht es weiter? 
Zunächst einmal muss das Buch mich selbst in irgendeiner Weise berührt haben. Das kann aus ganz unterschiedlichen Gründen geschehen. Mal ist es mehr der Stil der Illustrationen, mal mehr die besondere Erzählweise, mal das Thema an sich oder die originelle Umsetzung, bestenfalls alles zusammen. Dann kommt das Buch auf meine Liste potentieller Kandidaten für Buchvorstellungen im Zusammenhang mit kreativer Gruppenarbeit. Wann es zum Einsatz kommt, entscheide ich dann oft ganz kurzfristig aus dem Bauch heraus. Nicht ganz unwesentlich ist dabei auch der jahreszeitliche oder individuelle Zusammenhang oder aktuelle gruppendynamische Aspekte. Ganz wichtig ist die vorbereitete Umgebung, der passende und geschützte, störungsfreie Rahmen. An den Malwänden sind entsprechend der Teilnehmerzahl alle Malplätze vorbereitet, Farben und alles nötige Zubehör stehen griffbereit zur Verfügung. Zur Begrüßung versammeln wir uns zunächst gemeinsam an einem großen Tisch und lassen Ruhe einkehren, bevor wir mit der Vorstellung bzw. dem Vorlesen des ausgewählten Buches beginnen. Es folgt ein kurzer Austausch darüber und die Verkündung des „künstlerischen Auftrags“, welcher in den meisten Fällen vor allem ein inspirierendes Angebot und keineswegs Verpflichtung sein soll. Meistens wird das Angebot jedoch, manchmal 1:1, manchmal modifiziert, übernommen. Das Angebot ist wie ein Anker, der zunächst Sicherheit und einen Rahmen gibt, was insbesondere für wenig selbstbewusste, unsichere Kinder wichtig ist und dem Horror vacui, der sogenannten Angst vorm weißen Blatt, effektiv entgegenwirkt. Aus der gestellten Aufgabe entwickelt sich oft der Funke, der die Phantasie zu entfachen vermag. Im Anschluss an diese erste Phase gehen die Kinder selbständig an ihre Malplätze und arbeiten bis zum Ende der vorgesehenen Malzeit an ihrem Bild. Währenddessen stehe ich für Fragen und Hilfestellungen jederzeit zur Verfügung, versuche den individuellen künstlerischen Prozess aber möglichst nicht aktiv zu beeinflussen und schon gar nicht zu bewerten (im Gegensatz zum schulischen Kunstunterricht ). Was das Kind also letztlich aus dem Angebot macht, ob und wie es die Buchidee aufnimmt und verarbeitet, darf und soll seine persönliche Sache bleiben.

Foto: Hanna Nebe-Rector
Welche Bücher, welche Themen sind denn für diese Art der Bucherschließung besonders geeignet?
Ich bin für alle Themengebiete, insbesondere solche, über die es sich verstärkt nachzudenken lohnt wie Aspekte menschlichen Miteinanders, offen. Natürlich inspirieren uns auch Bücher, die sich speziell künstlerischen Themen widmen, Kunstbände oder auch Bildbände mit Natur-und Tierfotografien. Da wir in den Buchkindergruppen auch selbst Geschichten schreiben und daraus eigene Bücher machen, sind uns alle Bücher, die in irgendeiner Weise mit Sprache „spielen“, immer sehr willkommen. Selbstverständlich mögen wir aber auch mal reinen „Nonsens“! An beständigem Nachschub guter Bücher mangelt es uns dabei zum Glück nicht. Durch meine Rezensionstätigkeit (Chamaleonsbuchblog) habe ich fortwährenden Kontakt insbesondere mit Kinderliteratur, kann die aktuellen Entwicklungen des Bilderbuchmarktes beobachten, Bücher miteinander vergleichen, Autoren und Illustratoren kennenlernen etc. Einige dieser Bücher verwende ich immer wieder gern für verschiedene Malprojekte, weil sie sich als besonders geeignet für den Ideenfindungsprozess erwiesen haben. Gern kann ich davon einige beispielgebend nennen: Mies van Hout: Heute bin ich (aracari); Joachim Ringelnatz/Christine Sortmann: Die Landpartie der Tiere (Lappan); Eric Carle: Mal mir einen Stern (Gerstenberg); Peng+Hu: Hirameki (Kunstmann); Kveta Pacovska: Alphabet (MinEdition); Marion Deuchars: Fingerprints (Knesebeck); Pernilla Stalfelt: Fang einfach an! (Moritz); Daniel Napp: Das schlaue Buch vom Büchermachen (Gerstenberg); Daniela Kulot: Malte Maulwurf und sein wundersamer Fernseher (Thienemann), die wunderbaren Bastelbücher von Sabine Lohf (Gerstenberg) und viele andere mehr.

Foto: Hanna Nebe-Rector
Wenn die Kinder mit den Büchern als Inspiration arbeiten, erschließen sie sich die Buchidee auf der visuellen, kreativ-aktiven Ebene. Spüren Sie bei den Kindern im Laufe der Zeit einen veränderten Blick auf die Bücher? Wie sieht er aus? 
Ich glaube schon, dass sich der Blick auf die Bücher durch die eigene kreative Auseinandersetzung mit deren Inhalten langfristig verändert, weil diese über das bloße „Konsumieren“ einer vorgelesenen Geschichte noch einmal deutlich hinausgeht. Die Beziehung zum betreffenden Buch wird eine andere, unabhängig davon, ob sich das Kind für oder gegen das ursprüngliche Thema in der künstlerischen Tätigkeit entschieden hat. Oft nehmen die Kinder bereits vorgestellte Bücher später wieder zur Hand, um sich weitergehend damit zu beschäftigen. Das ist in unseren Malgruppen auch ausdrücklich erwünscht und erlaubt. Einige der vorgestellten Bücher landen sogar auf der Geburtstags-oder Weihnachtswunschliste mancher Kinder oder sie leihen sie sich ganz gezielt in der Bibliothek aus. Wenn mir das erzählt wird, freut mich das schon sehr! Die Wertschätzung von Büchern an sich verändert sich und der Umgang mit ihnen wird achtsamer, wie ich beobachten konnte. Obwohl sich unser Bücherregal im Atelierraum befindet, bleiben die Bücher erstaunlich sauber. Die Regel, vor dem Lesen und Blättern ans Händewaschen zu denken, wird von den Kindern verinnerlicht und (fast) immer befolgt.

Foto: Hanna Nebe-Rector
Gibt es einen Unterschied in der Arbeit zwischen Mädchen und Jungs?
Was die Favorisierung bestimmter Bücher betrifft, gibt es eigentlich kaum einen Unterschied, bei der Farbenwahl ebenfalls so gut wie gar nicht – abgesehen von der Verwendung von Pink, welches signifikant von Mädchen bevorzugt wird. Aber auch an diesem „Problem“ lässt sich mit Hilfe von inspirierenden Büchern arbeiten, wenn ich zum Beispiel an das Buch „Der Streik der Farben“ (NordSüdVerlag) denke, in dem ein Junge die Aufforderung seines pinken Farbstifts, doch mal pinke Cowboys oder Dinos zu malen, freudig in die Tat umsetzt.

Herzlichen Dank für das inspirierende Interview, Frau Nebe-Rector. Sie machen eine großartige Arbeit! Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg mit Ihren Malgruppen.

Wer in Geisenhausen oder Leipzig bzw. in der Nähe wohnt und jetzt Lust auf die Malgruppe bekommen hat, der kann sich bei Frau Nebe-Rector melden.

Kommentare

  1. Ein sehr interessantes Interview! Ich kann mir gut vorstellen, wie man Bücher und Kunst miteinander verknüpfen kann. Leider kenne ich hier bei uns ein solches Angebot nicht.

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