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KJL-Theorie: Sprachentwicklung und narrative Fertigkeiten

Als Zusammenfassung und Notiz fasse ich heute hier einmal zusammen, welche Komponenten die Sprachwissenschaft für die allgemeine Sprachentwicklung von Kindern festgelegt hat, wie narratives Verständnis durch Bilderbücher gefördert wird und was emergent literarcy bedeutet. Den Blogbeitrag ordne ich der KJL-Theorie hier auf Kinderbibliothek zu. Ich beziehe mich auf das Fachbuch "Die positive Kraft der Bilderbücher. Bilderbücher in Kindertageseinrichtungen pädagogisch einsetzen" von Winfried Kain, 2006 in Weinheim und Basel bei BELTZ erschienen.

Allgemeine Sprachentwicklung


Nach Grimm basiert die allgemeine Sprachentwicklung auf drei Komponenten, die sich als Kompetenzen ausbilden.

  1. prosodische
  2. linguistische
  3. pragmatisch
Prosodische Komponente

Unter ihr versteht man die Fähigkeit des Kindes, Rhythmik, Betonung und Sprachmelodie von Spracheinheiten wahrzunehmen, zu unterscheiden und zu produzieren. Erwachsene passen sich intuitiv in der Sprachlautbildung dem Entwicklungsstand des Kindes an. Babys sprechen sie mit höherer Stimme, freundlich, kurze und einfache Spracheinheiten, größere Betonung, mehr Wiederholungen, mehr Intonation, extensiveres Mimikspiel, kurze grammatikalische Sätze an. Die Ammensprache dient dazu, den Kleinstkindern die prosodische Komponente der Muttersprache näher zu bringen. Die Aufnahmefähigkeit und Lernbereitschaft dafür ist beim Kind im Babyalter am höchsten und nimmt bis zum Grundschulalter ab. Entwicklungsbiologisch ist dies logisch, da das Kind in diesem Alter die Muttersprache erlernen soll. 

Linguistische Komponente

Sie wird selbst in vier Unterkategorien unterschieden: phonetisch-phonologische Komponente (akustische Eigenschaften von Sprachlauten, Wahrnehmung und Verwendung von Sprachlauten), semantisch-lexikalische Komponente (Bedeutung von Wörtern und Wortschatz), morphologische Komponente (Bildung und Bedeutungsstruktuierung von Wörtern anhand der kleinsten bedeutungstragenden Spracheinheit (Morphemen)) und syntaktische Komponente (Regelung von Bau und Gliederung von Sätzen bzw. Satzformen).

Pragmatische Komponente

Unter ihr versteht man die Art, wie Sprache kommunikativ in Abhängigkeit vom Kontext verwendet wird.

In welchem Zusammenhang stehen nun Kinderbücher, insbesondere Bilderbücher, mit der Sprachentwicklung? In Bilderbüchern ist der Text meist kurz, prägnant und bezieht sich auf das Visuelle (Bilder). Oft wird der Text in Reimform wiedergegeben. So wird das prosodische Element gestärkt und gefördert. Zudem zeigen verschiedene Studien (Dickinson & Smith 1994, Sénéchal & Cornell 1993, Waasik & Bond 2001), daß durch intensivere Nutzung von Bilderbüchern der Wortschatz der Kinder sich erheblich erweitert. Ich denke, allein durch das Betrachten ist dem noch nicht getan. Erst eine aktive Auseinandersetzung mit dem Bilderbuch mithilfe von Erwachsenen (Vorlesen, gemeinsames Erzählen, Fragen an das Kind, Erkärungen von Begriffen und Zusammenhängen etc., Nacherzählen), die letztlich eine aktive Kommunikation ist, ist das entscheidende Merkmal. Dadurch wird gleichzeitig auch die syntaktische und die pragmatische Komponente gestärkt.

Bilderbücher fördern narrative Fertigkeiten


Über die Förderung der allgemeinen Sprachentwicklung hinaus stärken Bilderbücher die narrativen Fertigkeiten der Kinder. Narrative Fertigkeiten sind die Grundlage vom Textverständnis. Durch sie bekommen Kinder ein Gefühl für den Aufbau der Geschichte wie die klassische Struktur von Einleitung, Hinführung zum Höhepunkt, Höhepunkt und Ende), den Schauplatz, Zeitabfolge, Figuren und ihre Eigenschaften, Sprachabfolge wie Dialoge etc. Episodische Komponente bezieht sich hingegen auf Motive, Interessen, Gefühle und Gedanken der Figuren. 
Bilderbücher müssen den kognitivem Entwicklungsstand des Kindes angepaßt sein. Je jünger das Kind ist, desto einfacher muß der Textaufbau hinsichtlich der Satzstruktur und dem Informationsgehalt bzw. Komplexität sein. Da Kinder sich zunächst allein durch die Bilder Zugang zum Bilderbuch schaffen, spielen sie eine große Bedeutung. Sie müssen klar erkennbar, gut struktuiert sein und den Inhalt der Geschichte allein widerspiegeln können. Für jüngere Kinder gilt, daß sie ein Bilderbuch besser verstehen, je einfacher die Handlung konzipiert ist, nur ein Ort (Schauplatz) gewählt wird, und es eine einfache, klar formulierte Zeitabfolge gibt. Das Bewußtsein für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bildet sich erst mit 3, 4 Jahren heraus. Zuvor erleben die Kinder vieles in der Gegenwart, auch wenn sie wissen, daß es Vergangenes gibt (Bezugsperson verläßt den Raum - sie ist im Gegenwartsmoment nicht mehr da, s. Objektpermanenz). Daher ist es sinnvoll, wenn Bilderbücher für Kinder von 1, 2 Jahren hauptsächlich in der Gegenwart ihre Handlung haben. Für zwei- bis dreijährige Kinder kann die Zeitabfolge erweitert werden, jedoch muß sie klar erkennbar sein und im Text durch Verbindungswörter wie und, dann, vorher, nach gut strukturiert werden. Da Kinder in dem Alter bis zur magischen Phase mit 3, 4 Jahren realitätsbezogen leben (alles für bare Münze nehmen, kein Verständnis für Ironie etc.), sollten Bilderbücher keine oder nur kaum abstrakte Elemente (um die Ecke denken) beinhalten. Sie werden von den Kindern nicht wahrgenommen.
Reine Bilderbücher ohne Text sind zur Förderung der Sprachentwicklung sehr gut geeignet. Hierin ist auch der Erfolg von Wimmelbüchern bzw. die Anknüpfung an das Genre Bilderbuchkino zu sehen.
Betont sei noch einmal, daß die Präsentation von Bilderbüchern eine wichtige Rolle für den Zugang gestalten. Darunter fällt lebendiges, interaktives Vorlesen (ruhig ein wenig schauspielern), Fragen stellen und beantworten, Nachbereitung. Unter letzterem fällt auch die Anregung, die Kinder die Geschichte nacherzählen zu lassen, eigene Bilder dazu malen zu lassen oder die Bilder des Bilderbuches als Fotokopie ungeordnet vor den Kindern auszubreiten und sie die Abfolge (Nacherzählen) der Geschichte legen zu lassen. 
Die narrativen Fertigkeiten des Kindes läßt sich dadurch steigern, daß das Kind vor dem Vorlesen das Bilderbuch allein anschaut und sich so selbst versucht, den Plot zu erschließen.

Bedeutung des Bilderbuches für emergent literarcy


Unter emergent literarcy versteht man den Zugang zur Literatur vor dem Erwerb der Fähigkeiten Lesen und Schreiben. Kinder erkennen durch intensive Nutzung von Kinderbüchern schon vor dem Schreibenlernen die Bedeutung der Schrift als Kulturfähigkeit. Sie sind mit dem Umgang mit Schriftstücken vertraut und sicher (korrekte Haltung des Buches, Benutzung), sie wissen um die Bedeutung der Schriftsprache in der menschlichen Kommunikation, haben ein erstes Bewußtsein von Buchstaben, deren Reproduzierung (Schreiben), Logos, erkennen den Unterschied zwischen Bildern und Schrift, besitzen die Grundlagen des Textverständnis und der narrativen und episodischen Komponenten. Wie früh diese kongnitive Entwicklung bei Kindern vor dem Schreibenlernen ausgebildet ist, erkennt man, wenn Kinder ab 4 Jahre schreiben nachahmen, erzählen, sie schreiben jetzt einen Brief oder den Einkaufszettel schreiben wollen, Buchstaben auf Schildern erkennen und nachfragen, um welchen Buchstaben es sich handelt. 
Durch die Beschäftigung mit Bilderbüchern erlernen schon Kleinstkinder den Umgang mit Literatur: wie halte ich ein Buch richtig, Leserichtung, Bedeutung von Schrift und Buchstaben in der menschlichen Kommunikation, Förderung der Sprachästhetik, Sensibilisierung für Kommunikation, Stärkung des Selbstbewußtsein, der Selbständigkeit und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, wichtige Vorbereitung für den späteren Schritt, schreiben und lesen zu erlernen. Übrigens erkennen Kinder durch ihre Beobachtungsgabe recht schnell, wie oft Schrift im Alltag zur Kommunikation genutzt wird, was letztlich auch ein Abstraktionsschritt ist: das Schreiben von Einkaufszetteln, Lesen von Briefen, Lesen von Gebrauchsanweisungen wie Rezepte beim Kochen, Möbelzusammenbau etc.

Kommentare

  1. Da hat sich wohl ein kleines Fehlerteufelchen eingeschlichen, gleich mehrmals! Es heißt "literacy" (ohne zweites R), und inzwischen ist der Begriff auch in der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft so etabliert, dass man das "emergent" sogar weglassen darf.

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